Erstmalig auf bundesweitem Wohnungsmarkt: Berliner Gericht verurteilt Vermieterin zur Zahlung von 30.000 Euro Entschädigung wegen ethnischer Diskriminierung von türkeistämmiger Familie
Das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg hat jetzt eine für das Antidiskriminierungsrecht wegweisende Entscheidung – Az.: 25 C 357/14 – getroffen: Es verurteilte eine Vermieterin einer Familie mit türkischer Migrationsgeschichte zur Zahlung von 30.000 Euro (je 15.000 Euro pro Kläger) wegen Verletzung des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots gem. § 19 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
In dem Verfahren machten die muslimischen Kläger, ein türkeistämmiges Ehepaar mit drei bei ihnen lebenden Kindern aus dem Fanny-Hensel-Kiez in Berlin, Entschädigungsansprüche von 50.000 Euro wegen ethnischer und religiöser Diskriminierung geltend.
Zum Hintergrund des Rechtsstreits:
Die im Fanny-Hensel-Kiez gelegenen, für weitere Jahrzehnte als Sozialwohnungen geltenden Wohnungen sind vom Wegfall der sog. Anschlussförderung betroffen. Das hat zur Folge, dass die Vermieterin abseits des allgemeinen Mietrechts des BGB dazu berechtigt ist, von den Mieterinnen und Mietern der Wohnanlage die Zahlung der sog. Kostenmiete, deren Höhe umstritten ist, zu verlangen.
Im Februar 2010 erhöhte die Vermieterin gegenüber allen Mietparteien der Wohnanlage die Kaltmiete von 5,33 €/qm auf 7,04 €/qm. Zwei Monate später sprach die Vermieterin gegenüber den Klägern sowie gegenüber zwei arabischstämmigen und muslimischen Mietparteien eine weitere Mieterhöhung – und zwar auf 9,62 €/qm kalt – aus, während gleichzeitig die herkunftsdeutschen und mitteleuropäischen Mietparteien von nicht-muslimscher Religionszugehörigkeit hiervon verschont blieben. Die gegenüber den Klägern im Frühjahr 2010 ausgesprochene Mieterhöhung beträgt somit insgesamt ca. 80 %.
Die Kläger und die beiden anderen von der Ungleichbehandlung betroffenen Mietparteien forderten die Beklagte im Juni 2010 zur Rücknahme dieser zusätzlichen Mieterhöhung auf und machten ihre Ansprüche wegen der Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend, was die Vermieterin zurückwies. Infolgedessen sahen sich die Kläger dazu gezwungen, die unbezahlbar gewordene Wohnung zu kündigen. Da bei Ablauf des Mietverhältnisses eine mit behördlicher Unterstützung gefundene Ausweichwohnung nicht sofort zur Verfügung stand, baten die Kläger die Vermieterin um eine einmonatige Räumungsfrist. Das lehnte die Vermieterin ab und drohte mit Räumungsklage. Gleichzeitig gestattete die Vermieterin einer herkunftsdeutschen, nicht-muslimischen Mietpartei aus demselben Haus, die vor derselben Situation wie die Kläger stand, den vorübergehenden Verbleib in ihrer Wohnung. Auch diese Ungleichbehandlung machten die Kläger i. S. d. AGG geltend.
Im Nachgang der Mieterhöhungen verließen insgesamt 17 Mietparteien, davon 13 mit arabischer und türkischer Zuwanderungsgeschichte, die Wohnanlage. Bei der Neuvermietung der von der Beklagten unter dem Label „luxuriös modernisiert“ beworbenen Sozialwohnungen fällt auf, dass keine der zugezogenen Mietparteien eine arabische oder türkische Zuwanderungsgeschichte hat.
Das Gericht sieht sowohl in der Mieterhöhung als auch in der Nichtgewährung der Räumungsfrist eine Diskriminierung der Kläger wegen ihrer türkeistämmigen Herkunft.
Im Urteil heißt es:
„Die Beklagte hat den Klägern durch ihr Verhalten zu verstehen gegeben, dass diese aufgrund ihrer Herkunft und dem hiermit im Zusammenhang stehenden kulturellen Hintergrund nicht in das von der Beklagten verfolgte Miet- und Wohnkonzept passen, ohne dass die Kläger hierzu einen Anlass gegeben hätten. Es entsteht der Eindruck, die Beklagte fürchte durch Mieter türkisch-orientalischer Herkunft bzw. arabischer Herkunft eine Abwertung der Wohnanlage, die durch Mieter europäischer Herkunft nicht zu befürchten sei. Die damit vermittelte krasse Abwertung, Ausgrenzung und massive Ungerechtigkeit greift als erheblich verletzend in den Kernbereich des klägerischen Persönlichkeitsrechts ein. Es wird so nicht nur deutsches Verfassungsrecht verletzt, das die Gerichte im Rahmen der Beurteilung zu berücksichtigen haben, sondern auch tragende europäische Rechtsgrundsätze (vgl. nur Richtlinie 2000/43 EG des Rates v. 29.06.2000, Art. 21 EU-Grundrechtecharta).“
Zudem erkennt das Gericht an, dass die Kinder der Kläger ebenso Betroffene der Diskriminierung sind wie ihre Eltern, da „nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die Erfahrung auf Dauer negativ auf ihre besonders sensible persönliche Entwicklung sowie auf das Bild von sich selbst und ihrer Rolle in der Gesellschaft der Bundesrepublik auswirken wird.“
Im Urteil wird hervorgehoben, dass die Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg die Beklagte in einer einstimmig zustande gekommenen Resolution dazu aufgefordert hatte, die „zum Zweck der gezielten Vertreibung einzelner Mietparteien ausgesprochenen Mieterhöhungen zurückzunehmen“ (vgl. Resolution vom 28.04.2010, Drs. Nr. DS 1760/III). Die Vermieterin habe dies – so das Gericht – nicht nur unterlassen, sondern sich sogar veranlasst gesehen, “weitere diskriminierenden Maßnahmen zu unternehmen“.
Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung verweist das Gericht auf die Antirassismusrichtlinie der EU, auf der das AGG beruht. Gemäß Artikel 15 dieser Richtlinie muss Diskriminierung abschreckend sanktioniert werden. Letztlich soll die diskriminierende Partei von weiteren Diskriminierungen abgehalten wird.
Zur Bewertung des Urteils:
„Wir freuen uns über das Urteil. Für mich und meine Familie bedeutet es ein Stück Gerechtigkeit. Ich hoffe, dass es dazu beiträgt, dass auch andere Vermieter Menschen nicht mehr diskriminieren“, so der Kläger, Herr P.
„Wir begrüßen dieses Urteil. Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt ist ein seit langem unterschätztes Problem. Es besteht dringend Aufklärungs- und Handlungsbedarf. Durch den angespannten Wohnungsmarkt werden immer mehr sozio-ökonomisch schwache Menschen aus der Innenstadt verdrängt. Unter diesen Menschen sind auch viele mit sog. Migrationshintergrund, die zudem auch – wie dieser Fall zeigt – von Diskriminierung betroffen sind. Diese müssen hiervor verstärkt geschützt werden. Migrantenverbände müssen bei wohnungspolitischen Belangen zukünftig eingebunden werden“ so Ilker Duyan, der Sprecher des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg e.V. (TBB).
„Es ist kein Zufall, dass dieser Diskriminierungsfall ausgerechnet im Berliner Sozialen Wohnungsbau mit seinen jahrzehntelangen Skandalen auftritt. Berlin muss endlich ein Korrekturgesetz für die bestehenden Sozialwohnungen erlassen, damit Mietsteigerungen von 80% und mehr von vornherein ausgeschlossen sind. Es kann nicht sein, dass die Politik ausgerechnet die schwächsten Mieter der Stadt der Willkür der Vermieter ausliefert“, so Ulf Glandien, Vorstandsmitglied von mieterstadt.de – Netzwerk für soziales Wohnen und bürgernahe Stadtentwicklung e.V.
„Diskriminierungen sind keine Kavaliersdelikte, sondern verletzen die Menschenwürde der Betroffenen. Dieses Urteil geht in die richtige Richtung, denn es berücksichtigt die europarechtliche Vorgabe, nach der Diskriminierung abschreckend sanktioniert werden muss. Diskriminierung darf sich nicht lohnen. Von Diskriminierung Betroffene brauchen frühzeitig Unterstützung und zudem einen Rechtshilfefonds“, so Eva Maria Andrades, Projektleiterin des Antidiskriminierungsnetzwerks Berlin des TBB. Dieses berät die Familie in dem Verfahren und unterstützt sie als Beistand.
„In diesen Monaten führt der Senat zur Zukunft des Berliner Sozialen Wohnungsbaus Gespräche mit einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Akteuren. Der Vorschlag, hierzu auch eine Vertreterin oder einen Vertreter eines Migranten- und eines Antidiskriminierungsverbandes einzuladen, wurde schroff abgelehnt. Das muss dringend geändert werden“, so Sebastian Jung, ehemaliger Nachbar der Kläger und Vorstandsmitglied des Netzwerks mieterstadt.de, der an den Gesprächen des Senats teilnimmt.
„Ohne Rechtschutzversicherung und die Hilfe von unseren Unterstützern hätten wir uns nicht getraut zu klagen“, so das Ehepaar P.
Kontakt:
Netzwerk mieterstadt.de, info@mieterstadt.de
TBB, info@tbb-berlin.de
Urteil:
Das Urteil des Amtsgerichts Temeplhof-Kreuzberg können Sie hier einsehen.